Skip to main content

05.06.2023-Fachbeitrag -Schätzung

VON RA PROF. DR. CARSTEN WEGNER, BERLIN

Der BFH hat das BMF aufgefordert, dem Revisionsverfahren beizutreten, um dazu Stellung zu nehmen, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen ein äußerer Betriebsvergleich in Gestalt einer Schätzung anhand der Richtsätze der amtlichen Richtsatzsammlung des BMF zulässig ist.

Sachverhalt

Der Kläger (K] betrieb in einer deutschen Großstadt eine Diskothek. Eine Außenprüfung für die Streitjahre 2013 und 2014 beanstandete die Kassen- und Buchführung des Kals formell ordnungswidrig. Daher verprobte der Prüfer die Getränkeumsätze und ermittelte einen Rohgewinnaufschlagsatz von knapp 400 Prozent. Dieser wich erheblich von denjenigen Sätzen ab, die den Gewinermittlungen des K zu entnehmen waren. Daraus folgerte der Prüfer, dass die Betriebseinnahmen und Umsätze unvollständig erklärt worden seien. Auf Grundlage des von ihm errechneten Aufschlagsatzes schätzte er kräftig hinzu, ebenso bei den Erlösen aus Eintrittsgeldern und Garderobendienstleistungen.

Auch das FG ging was K inzwischen nicht mehr in Abrede stellt von einer Schätzungsberechtigung aus. Es beanstandete aber sowohl die Schätzungsmethode als auch das -ergebnis des FA. In Ausübung seiner eigenen Schätzungsbefugnis schätzte es die Getränkeumsätze nach Maßgabe eines äußeren Betriebsvergleichs. Dabei orientierte sich das FG im ersten Rechtsgang bei dem von ihm zugrunde gelegten Rohgewinnaufschlagsatz von 300 Prozent zum einen an der vom BMF veröffentlichten Richtsatzsammlung, die für Gastronomiebetriebe in den Streitjahren Rohgewinnaufschlagsätze zwischen 186 Prozent und 376 Prozent [2013] bzw. 186 Prozent und 400 Prozent (2014] sowie einen Mittelwert von jeweils 257 Prozent ausweist. Es berief sich auf einen nur für den Dienstgebrauch der Finanzverwaltung erstellten Erfahrungsbericht vom 23.5.17 über Betriebsprüfungen bei Diskotheken [sog. Fachinfosystem Bp NRW].

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des K hob der BFH das Urteil aufgrund eines Verfahrensfehlers auf und verwies die Sache an das FG zurück (28.5.20, X B 12/20,BFH/NV 20, 1087). Mit Urteil vom 13.10.20 bestätigte das FG sein Ergebnis, griff für den Ansatz des Rohgewinnaufschlagsatzes von 300 Prozent aber nur noch auf die Richtsatzsammlung des BMF zurück. Im jetzigen Revisionsverfahren will sich der BFH
mit der Rechtsfrage auseinanderzusetzen, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen ein äußerer Betriebsvergleich in Gestalt einer Schätzung anhand der Richtsätze der amtlichen Richtsatzsammlung des BM F zulässig ist (BFH 14.12.22, X R 19/21, Abruf-Nr. 234017).

Entscheidungsgründe und Relevanz für die Praxis

Nach § 162 Abs. 1 S. 1 AO muss die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen schätzen, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann. § 96 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 FGO i. V. m. § 162 AO gibt dem FG eine eigene Schätzungsbefugnis. Zu schätzen ist u. a., wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag oder seine Mitwirkungspflicht nach § 90 Abs. 2 AO verletzt, § 162 Abs. 2
S. 1 AO. Nach Abs. 2 S. 2 gilt Gleiches, insbesondere wenn der Steuerpflichtige Bücher oder Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen führen muss, nicht vorlegen kann, wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach §158 AO zugrunde gelegt werden oder wenn Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der vom Steuerpflichtigen gemachten Angaben zu steuerpflichtigen Einnahmen oder Betriebsvermögensmehrungen bestehen.

In Strafverfahren wird i. d. R. über materielle Defizite gestritten, und auch ab und an geschätzt. In Steuerprüfungsverfahren die ab und an allerdings auch Ausgangspunkt für Steuerstrafverfahren sind führen demgegenüber schon formelle Buchführungsmängel zu Streit. Entsprechende Mängel berechtigen (nur] zur Schätzung, als sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Buchführungsergebnisses anzuzweifeln (BFH 25.3.15 , X R 20/13, BFH E 249, 390).

MERKE: Nach § 162 Abs. 1 S. 2 AO (i. V. m. § 96 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 FGO] sind bei der Schätzung alle Umstände zu berücksichtigen, die für sie bedeutsam sind. Die Schätzungsergebnisse müssen schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein (vgl. BFH 17.6.20, X R 26/18, BFH/NV 21, 314]. Letzteres sind Kriterien, die allerdings auch in Strafverfahren immer wieder als Kontrollüberlegung bzw. Gegenargument in den Raum geworfen werden sollten.

Im Kern gilt (und ist durch die Rechtsprechung abgesichert) Folgendes:

  • Das FA und damit gern. § 96 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 FGO i. V. m. § 162 AO auch das FG ist in der Wahl seiner Schätzungsmethoden frei.
  • Es ist Sache der Tatsacheninstanz zu entscheiden, welcher Schätzungsmethode sie sich bedienen will, wenn diese geeignet ist, ein vernünftiges und der Wirklichkeit
    entsprechendes Ergebnis zu erzielen.
  • Der Steuerpflichtige hat keinen Anspruch auf die Anwendung einer bestimmten Schätzungsmethode.
  • Weder das FA noch das FG sind grundsätzlich verpflichtet, das aufgrund einer Schätzungsmethode gewonnene Ergebnis noch durch die Anwendung einer weiteren Schätzungsmethode zu überprüfen oder zu untermauern [vgl. BFH 16.12.21, IV R 1/18, BFH/NV 22, 305].
  • Allerdings ergibt sich aus§ 5 AO i. V. m. dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Wahlfreiheit des FA bzw. des FG bei der Auswahl zwischen mehreren in Betracht kommenden Schätzungsmethoden nach den für die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens geltenden Grundsätzen eingeschränkt ist und dabei auch Verhältnismäßigkeitserwägungen zu beachten sind.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat die höchstrichterliche Rechtsprechung die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen durch einen äußeren Betriebsvergleich anhand der aus der amtlichen Richtsatzsammlung des BMF zu entnehmenden Richtsätze bislang als „anerkannte Schätzungsmethode“ bewertet [vgl. u. a. BFH 5.12.07 X B 4/07, BFH/NV 08, 587; 14.8.18, XI B 2/18, BFH/NV 19, 1). Der BFH hat zudem wiederholt klargestellt, dass die amtlichen Richtsätze keine Rechtsnormen sind [so bereits BFH 18.9.74, 1 R 94/72, BFHE 114, 1]. sondern nur anerkannte Hilfsmittel der Verprobung und Schätzung der Umsätze und Gewinne [BFH 7.12. 77, 1 R 16, 17 /75, BFHE 124, 18).

MERKE: Durch die Rechtsprechung ist zudem geklärt, dass Schätzungsgrundlagen im Streitfall von der Finanzbehörde so dargelegt werden müssen, dass ihre Nachprüfung und insbesondere eine Schlüssigkeitsprüfung des zahlenmäßigen Ergebnisses der Schätzung möglich ist. Hierzu müssen sowohl die Kalkulationsgrundlage und damit auch die spezifischen Daten, auf denen die Schätzung basiert als auch die Ergebnisse der Kalkulation sowie die Ermittlungen, die zu diesen Ergebnissen geführt haben, offengelegt werden.

Ungeachtet dessen hat sich der BFH bislang nicht näher damit auseinandergesetzt, auf welchen Grundlagen und Parametern die Richtsätze des BMF beruhen, wie sie zustande kommen und welche Auswirkungen sich hieraus auf die Tauglichkeit eines äußeren Betriebsvergleichs anhand der Richtsatzsammlung ergeben. In Anbetracht der insbesondere für die steuerrechtliche, aber auch für die steuerstrafrechtliche [BGH
20.12.16, 1 StR 505/16, HFR 17,970] Praxis erheblichen Bedeutung derVerprobung und Schätzung von Besteuerungsgrundlagen anhand der amtlichen Richtsatzsammlung erscheint es dem BFH sachgerecht, das BMF förmlich am hiesigen Revisionsverfahren zu beteiligen. Denn unklar erscheint dem BFH gegenwärtig insbesondere.

  • welche Einzeldaten mit welchem Gewicht in die Ermittlung der Richtsätze der jeweiligen Gewerbeklasse einfließen, wie die Repräsentativität der Daten sichergestellt wird und ob es Einzeldaten gibt, die von vornherein ausgeschlossen werden
  • ob die regional zum Teil erheblich unterschiedliche Höhe fixer Betriebskosten [insbesondere Raum- und Personalkosten] der Festlegung bundeseinheitlicher Richtsätze entgegensteht
  • weshalb die Ergebnisse von Außenprüfungen bei sog. Verlustbetrieben unberücksichtigt bleiben, obwohl auch solche Betriebe grundsätzlich einen positiven Rohgewinnaufschlagsatz ausweisen
  • ob ganz oder teilweise erfolgreiche Rechtsbehelfe des Steuerpflichtigen gegen die auf eine Außenprüfung ergangenen Steuerbescheide Eingang in die Richtsatzsammlung finden

Zudem ist für den BFH fraglich, wie dem Steuerpflichtigen ermöglicht werden kann, das Ergebnis einer Schätzung auf der Grundlage der amtlichen Richtsatzsammlung insbesondere auch im Hinblick auf die spezifischen Daten, die dieser Sammlung zugrunde liegen nachzuvollziehen und zu überprüfen.

QUELLE: PStR Praxis Steuerstrafrecht, Ausgabe 07/2023, Seite 148, ID 49314880

Leave a Reply